Neurodiversität ist für die menschliche Rasse genauso bedeutend, wie Biodiversität für das Leben im Allgemeinen.
H. Bloom, The Atlantic, 1998

Neuro ... was?
Neurodiversität beschreibt die Idee, dass Menschen die Welt um sie herum auf viele verschiedene Arten erleben und ebenso unterschiedlich mit ihr interagieren; es gibt nicht die eine richtige Art zu denken, zu lernen und sich zu verhalten. Unterschiede werden nicht als Defizite angesehen.
Der Begriff Neurodiversität bezieht sich auf die Vielfalt aller Menschen, wird aber häufig im Zusammenhang mit dem Autismus-Spektrum (ASS) sowie anderen neurologischen oder entwicklungsbedingten Besonderheiten wie AD(H)S, Legasthenie, Dyslexie, Dyskalkulie, Hochbegabung, Hochsensibilität oder Dyspraxie verwendet. Die Neurodiversitätsbewegung entstand in den 1990er Jahren mit dem Ziel, die Akzeptanz und Einbeziehung aller Menschen zu verbessern und gleichzeitig neurologische Unterschiede zu berücksichtigen. Über Online-Plattformen konnten sich immer mehr neurodivergente Menschen zusammenschliessen und eine Selbstvertretungsbewegung bilden.
Zur gleichen Zeit prägte Judy Singer, eine australische Soziologin, den Begriff Neurodiversität, um die Gleichstellung und Einbeziehung neurologischer Minderheiten zu fordern. «Für mich liegt die zentrale Bedeutung des Autistischen Spektrums in der Forderung nach und der Vorwegnahme einer Politik der neurologischen Vielfalt oder, wie ich es nennen möchte, der "Neurodiversität"».
Mediziner:innen haben in der Regel eine krankheitsorientierte Sichtweise auf das Gehirn und nicht eine, die sich auf Gesundheit und Wohlbefinden konzentriert. So gibt es zum Beispiel zahlreiche Studien darüber, was mit der linken Gehirnhälfte von Legastheniker:innen nicht stimmt. Über den Bereich in der rechten Hemisphäre, der lose Wortassoziationen verarbeitet, gibt es jedoch nur wenige Untersuchungen. Ausserdem visualisieren Legastheniker:innen häufig in drei Dimensionen.
Das soll jetzt nicht heissen, dass jede Besonderheit, Erkrankung oder Behinderung in Wirklichkeit eine Superkraft ist - es soll aber heissen, dass es sich bei allen Diagnosen um eine ziemlich normale und breite Palette menschlicher Variationen handelt. Dennoch müssen wir die negativen Aspekte einer bestimmten Störung hervorheben, um Mittel und öffentliche Unterstützung zu erhalten. Infolgedessen besteht die Tendenz, Defizite, Behinderungen und Funktionsstörungen zu betonen und Stärken, Talente und Begabungen zu vernachlässigen.
Hinzu kommt die subjektive Komponente psychischer "Störungen". Ob und welche Diagnose jemand erhält, hängt stark damit zusammen, wann und wo diese Person lebt.
Das, was Cartwright "Dapetomonia" nannte, ist dafür ein prima Beispiel oder Katharina von Sienna, die sich zu Tode hungerte und so zu Heiligen wurde oder die Tatsache, dass Homosexualität bis 1990 von der WHO als psychische Erkrankung klassifiziert wurde.
Psychische Störungen spiegeln die Werte einer bestimmten gesellschaftlichen und historischen Epoche wider. In 25 oder 50 Jahren werden wir auf die heutigen psychiatrischen Diagnosen zurückblicken und den deutlichen Abdruck unserer zeitgenössischen Vorurteile sehen.
Der Grund, warum ein Zustand als abnormal bezeichnet wird, ist, dass er gegen einen oder mehrere wichtige gesellschaftliche Werte oder Tugenden verstösst.
ADHS zum Beispiel verstösst gegen die protestantische Arbeitsethik, Dyslexie verstösst gegen unsere Überzeugung, dass jedes Kind lesen sollte. Mit dem Aufkommen der allgemeinen Schulbildung kam der Auftrag, dass jede:r lesen lernen sollte, und diejenigen, die Schwierigkeiten hatten, wurden als abnormal angesehen. Autismus verstösst gegen das Diktat der Geselligkeit, Angst gegen die Tugend der Gelassenheit, Entwicklungsstörungen gegen den Wert des Intellekts, Depression gegen das positive Denken und Schizophrenie gegen die Rationalität.
Erschwerend hinzu kommt unsere Neigung, Menschen mit diagnostischen Etiketten so weit wie möglich von uns selbst zu entfernen. Ein Grossteil des Leids, das Menschen mit psychischen Auffälligkeiten erleiden, ist auf diese Art von Vorurteilen zurückzuführen.
Hier kommt die Neurodiversität ins Spiel und bietet eine ausgewogenere Perspektive. Anstatt eine traditionell pathologisierte Bevölkerungsgruppe als minderwertig oder gestört zu betrachten, wird bei der Neurodiversität der Schwerpunkt auf die Unterschiede gelegt. Diese Unterschiede sind real und verdienen es, ernst genommen zu werden, rechtfertigen jedoch keine Abwertung.
Für neurodivergente Kinder und Jugendliche funktioniert die öffentliche Schule häufig nicht. Sie landen schnell in Time-Out Klassen, besonderen Volksschulen oder im Home-Schooling. Selbst wenn Schule neu gedacht wird - was dringend nötig ist - werden neurodivergente Menschen kaum berücksichtigt. Als Erwachsene sind sie häufig arbeitslos, häufiger als Menschen mit anderen Behinderungen. Sie werden im klassischen Rekrutierungsprozess systematisch benachteiligt. Das muss sich ändern. Inklusion ist ein Menschenrecht. Der Gesellschaft geht durch diese Benachteiligung viel Potential verloren. Wir brauchen Menschen, die anders denken - heute mehr denn je.
Der Kampf um Neuroinklusivität ist der Brügerrechtskampf unserer Zeit!
Bibliographie:
Blume, Harvey: "Neurodiversity", Atlantic. September 30, 1998.
Singer, Judy: "Why can't you be normal for Once in Your Life?" in Disabilty Discourse, edited by Marian Corker and Sally French (Buckingham, England: Open University Press, 1999), 64.